Bis die Mutter, der ich von seinem Missmut erzähle, grob wird: "Jan, ich habe dich jetzt mehr als ein Jahr hin und her gefahren, der Krixel-Kraxel hatte große Geduld mit dir. Er hat dich für diese Saison im Jugendvierer am letzten Brett und für die Kölner Jugendeinzelmeisterschaft, die bald beginnt, angemeldet. Du machst weiter. Basta." Jan nimmt das (maulend) zur Kenntnis.
Beim nächsten Mal, Ende September 2006, kommt er allein. Ich teste seine Kenntnisse, die er in knapp einem Jahr erworben hat. Er ist konzentriert und motiviert, wie lange nicht mehr. Die Gardinenpredigt hat offensichtlich Wirkung gezeigt. Er bittet zum Abschluss um eine Partie. Gebongt. Wir ziehen und drücken abwechselnd auf einen Wecker als fiktive Schachuhr. Ich vergesse das manchmal absichtlich. Das macht ihm diebische Freude: "Du hast vergessen zu drücken, Krixel-Kraxel." "Das brauchst du mir nicht zu sagen", erkläre ich ihm: "Um die Zeit muss sich dein Gegner selber kümmern."
Er ist darüber hinaus so in seine Partie vertieft, dass er erstmals seit langem die Frage: "Wie spät ist es?", vergisst. Als die Stunde herum und das Spiel noch nicht beendet ist, fordert er mich auf: "Krixel-Kraxel, schreib die Stellung auf. Das nächste Mal spielen wir sie weiter." Ach, wenn es in Zukunft denke ich seufzend immer so wäre und weiß, dass es ein Wunschtraum bleibt.
Eine Woche später erscheint er noch ohne Schachuhr, aber nanu! unerwartet mit seinem Bruder Sven. Der hat wohl nichts Besseres vor. Na, dann wird das vorgesehene Programm eben abgeändert und ein Bruderkampf angesetzt. Mit dem Wecker als Schachuhr-Attrappe. Italienisch kommt auf Brett. Nach 15 Zügen ist die Sache für Jan erledigt, sein Bruder ist völlig aus der Übung, keine Überraschung. Die kommt anschließend bei der Besprechung der Partie. Auf meine Fragen: "Wie hättest du auf den viel besseren fünften Zug von Schwarz reagiert?", "Was hättest du gemacht, hätte dein Gegner im siebten Zug das gespielt?...", sprudelt es in druckreifen Formulierungen aus dem Kerlchen heraus: "Ich hätte wahrscheinlich..., dann wäre die Diagonale in meinem Besitz", "Ich hätte eventuell... gespielt, und das Feld d5 wird schwach." Er demonstriert, gegenüber dem älteren Bruder, seine Deutungshoheit und praktiziert in der nachträglichen Analyse eine Art Variantenberechnung, zu der ich ihn bislang nicht verführen konnte. Ziemlich eindrucksvoll.
Anfang Oktober 2006. Sven war von der letzten Runde reichlich bedient. Jan kommt allein. Diesmal strahlend mit der Schachuhr in der Hand. Nachtblau. Ein schönes Ding. "Wo hat deine Mutter die her?" "Dadada." "Siehste mal. Hab ich dir doch gesagt." Heute keine Aufgaben. Wir spielen eine Partie mit der Uhr und üben die Folge Nachdenken Ziehen Drücken Aufschreiben. Denn der Ernst des Schachlebens rückt näher. Am kommenden Sonntag steht die erste, ernsthafte Partie in seinem kurzen Leben an. Mannschaftskampf zu Hause. Und wie er den spielt! Während seine im Schnitt zwei bis drei Jahr älteren Kollegen nach 20 Minuten entweder schon gewonnen oder verloren haben, sitzt der 7jährige anderthalb Stunden an Brett 4 (ein vielversprechendes Zeichen) und erreicht als Weißer folgende Stellung: Kh1, Dd1, Te2, a4, c2, d3, e4 Schwarz: Kg8, Dg3, Tb8, a5, d6, d4, e5, f7, h2.
Leider, leider sieht er den Gewinnzug nicht und verliert später sogar. Macht nichts. Solche Niederlagen machen stark, wenn man aus ihnen lernt. Beim nächsten Unterricht unter der Woche erkläre ich ihm, was vorgefallen ist. Schwamm drüber. Dann besprechen wir ein paar Anfangszüge Französisch, damit er andere Eröffnungen kennen lernt als e4 e5, die er bisher ausschließlich zu Gesicht bekommen hat. Und sich dennoch nach den ihm vertrauten Kriterien Zentrum Entwicklung der Leichtfiguren Rochade in unbekanntem Neuland zurechtfinden kann.
"Das ist wichtig, Jan, im Hinblick auf die bevorstehende Jugendmeisterschaft. Da werden die Gegner dir noch ganz andere Züge um die Ohren hauen. Er hört aufmerksam zu, aber bald schon beschäftigen ihn ganz andere Fragen: "Axel, wie viel Partien muss ich in dem Turnier spielen?" "Sieben, bis März, jeden Monat eine." "Wenn ich alle gewinne, was kriege ich dann?" "Urkunde und Pokal." "Kann ich das schaffen?" "Unwahrscheinlich. Aber du wirst auf keinen Fall sieben Mal verlieren." "Sind die Gegner so alt wie ich?" "Ungefähr, die meisten sind wohl ein bisschen älter. Vor denen brauchst du keine Angst zu haben. Die spielen vielleicht schon etwas länger als du, aber schlechter. Oder erst seit kurzem, und besser. Du gewinnst und verlierst. Das gleicht sich aus." "Spiele ich zweimal gegen denselben Gegner?" "Das kommt in einem Turnier nicht vor, Jan. Alles klar?"
Anfang November 2006. Start in die erste Runde, aus der er mit einer (unnötigen) Niederlage heimkehrt. Wir besprechen die Gründe und pendeln in den darauffolgenden Wochen zwischen Eröffnung, Taktik, Endspiel und Wettkampfvorbereitung bis in den Dezember, bis zu seinem zweiten Wettkampf. Von dem kommt er ganz enttäuscht zurück: "Ich hatte keinen Gegner." "Das passiert, Jan." Ich muntere ihn auf. Ein gutes Zeichen, seine Enttäuschung. Er wollte die Scharte seiner Auftaktniederlage auswetzen. Die richtige Einstellung, die ich in den folgenden Monaten durch regelmäßigen Rhythmus zwischen Training und Turnier zu stärken versuche.
Das erfreuliche Resultat: Jan Mundorf wird am Ende der Kölner Jugendmeisterschaft in seiner Altersklasse U8 mit vier Punkten aus sechs Partien Dritter und heimst einen Pokal ein, fast größer als er selbst. Danach lassen wir die Saison zwei Monate lang austrudeln. Ich bin im Mai bis tief in den Juni 2007 verreist, er hat danach Sommerferien. In drei Monaten, Mitte August, kommen wir wieder zusammen. Er freut sich drauf, und ich auch.
Axel Dohms
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