ECU FIDE DSJ Bundesliga Fernschachbund | Shop
UKA Umweltgerechte Kraftanlagen Meißen GmbH - Partner des Deutschen Schachbundes
ChessBase - Partner des Deutschen Schachbundes
DWZ/Elo
Übersicht Datenbank DeWIS Alte Datenbank
Spielbetrieb
Familienmeisterschaft DSAM (Ramada-Cup) Tag des Schachs Deutschland-Cup Verein des Jahres Senioren Frauen Bundesligen Frauen-Regionalligen Meisterschaften Nationalmannschaft Terminplan Turnierdatenbank Chronik
Intern
SRK Schach & Recht Leitbild Adressen Präsidium Referate Satzung & Ordnungen Schach & Doping Archiv
Links
Forum Linksammlung Videos Email-Verzeichnis Mediaservice
Angebote/Informationen
Bundesministerium des Innern
Zug um Zug gegen Rassismus
Mehr Informationen Deutscher Olympischer Sportbund
Interessengemeinschaft der nicht-olympischen Verbände im DOSB
Präventionskonzept Gemeinsam gegen Doping
Stiftung Deutsche Sporthlfe
Startseite
Nachrichtendetails

Olympiade Schach muss sichtbar werden
Olympiade

25.04.2007
Christian Hesse über seine phantastischen Schachexpeditionen und die Schacholympiade

Ein Beitrag von Artikeldienstmitarbeiter Oliver Breitschädel

ChristianHesseInterview-1.jpg
Prof. Dr. Christian Hesse

Christian Hesse, Jahrgang 1960, verheiratet und Vater zweier Kinder, kann auf eine Bilderbuchkarriere zurückblicken. Hesse hat 1987 an der renommierten Harvard University in Boston promoviert und in den Folgejahren an der University of California in Berkeley als Assistenz-Professor gelehrt. Seit 1991 ist Hesse Professor für Mathematik an der Universität Stuttgart am Institut für Stochastik und Anwendungen und leitet dort die Abteilung für Mathematische Statistik. Mit 31 Jahren war Hesse damals der jüngste Professor Deutschlands.


Christian Hesse ist aber nicht nur auf dem Gebiet der Mathematik eine Koryphäe, er ist passionierter Schachspieler und hat es neben seinem hauptberuflichen Engagement geschafft, im November letzten Jahres ein Schachbuch der Extraklasse zu präsentieren: „Expeditionen in die Schachwelt“. Die Kritiken über Professor Hesses „Expeditionen“ reichen von einer „tollen Sammlung“ (Schachverlag Kania, Homepage) bis hin zu einem der „lesenswertesten Bücher, die je über das Schachspiel verfasst wurden“ (Der Standard, Wien). Eine Kommentatorin meinte gar „Hesse macht Schach Christiansen-fähig.“ Der Autor weckt mit seinem Buch beim Leser eine Begeisterung sich mit den zahlreichen Facetten des königlichen Spiels zu beschäftigen. Und vielleicht weckt er sogar die Begeisterung sich ein wenig mit der Mathematik zu beschäftigen.

Der bekennende Bobby Fischer-Fan Christian Hesse behandelt in seinem Buch die verschiedensten Themen aus dem Reich des Schachs und das breite Spektrum lässt erahnen, über welches Schachwissen der Autor verfügt. Eine Vielzahl der Expeditionen lassen die mathematisch- naturwissenschaftliche Ader des Autors erkennen. Kapitelüberschriften wie „Paritätsargumente“, „eine Unbestimmtheitsrelation“, „Symmetrie und Symmetriebrechung“, „Perpetuum mobile“ und weitere, sowie Schlagwörter wie „Quantenlogik“ oder mathematische Formeln und Ausdrücke wie „E=mc2“ oder „n-ter Ordnung“ könnten einem Physik- oder Mathematikrepetitorium entstammen. Hesse füllt die entsprechenden Kapitel mit schachlichen Analogien und schafft es somit auf elegante Weise eine Brücke zum Schach zu schlagen.

Im Kapitel „Fischerbezwinger, Fischerbezwinger-Bezwinger“ macht Hesse den Leser mit dem in der Soziologie gut bekannten „Kleine-Welt-Phänomen“ vertraut, nach dem zwei beliebige Menschen durch eine Kette von nur wenigen paarweise miteinander bekannten Personen verbunden werden können. Davon abgeleitet führt Hesse die Fischer-Zahl ein (Bobby Fischer erhält die Fischer-Zahl 0, jemand, der Bobby Fischer mindestens einmal besiegt hat, hat die Fischer-Zahl 1; jemand, der mindestens einmal jemanden mit der Fischer-Zahl 1 besiegt hat, erhält die Fischer-Zahl 2 usw.), die zu interessanten Fragestellungen führt. Vermutlich stehen Sie Bobby Fischer viel näher als Sie bisher dachten. Wie groß ist Ihre Fischer-Zahl?

Auch die Gebiete Medizin und Psychologie kommen in den Kapiteln „Tod am Schachbrett“, „Schach und Psychologie“, „Schach-Experimente“ und „Auto-Aggression“ nicht zu kurz, hat Hesse doch zu Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn zwei Semester Medizin studiert.

Insgesamt leitet Christian Hesse in seinem Buch 94 Expeditionen. Die Reise führt den Leser zu außergewöhnlichen Partien, fantastischen Kombinationen, Problemen und Studien. Sie alle aufzulisten würde den hiesigen Rahmen sprengen.

Sehr amüsant ist Hesses „Nachwort“, in welchem er seinen schriftlichen Austausch mit dem Großayatollah Ali al-Sistani kommentiert. Demnach sei zwar das Schachspielen für schiitische Moslems verboten, doch das Lesen von Schachbüchern und das Lösen von Schachproblemen sei völlig unbedenklich.

ChristianHesseInterview-2.jpg
 
Christian Hesses „Expeditionen in die Schachwelt“ waren auch beim größten Deutschen Schach-Open, dem Neckar-Open in Deizisau, sehr begehrt

Im Frühjahr 2001 habe ich am 4. Physikalischen Institut der Universität Stuttgart promoviert. Im selben Gebäude hat Prof. Christian Hesse sein Büro. Was lag da näher als bei einem Besuch meiner alten Wirkungsstätte bei Herrn Prof. Hesse vorbeizuschauen, um mich mit ihm über seine Schachexpeditionen zu unterhalten. Es war ein sehr interessantes und ausführliches Gespräch…    

Herr Hesse, wie sind Sie zum Schachspielen gekommen?

Das Schachspielen habe ich in jungen Jahren von meinem Vater gelernt. Ich muss etwa 8 Jahre alt gewesen sein. Wir haben damals sehr viel miteinander gespielt.  

Sie sind Hochschullehrer an der Universität Stuttgart. Haben Sie da noch Zeit für Schach?

Schach ist ein Hobby von mir. Natürlich bin ich beruflich stark eingespannt und sehr engagiert. Und auch meine Familie ist mir sehr wichtig.

Psychologen sagen: mehr als drei Dinge gleichzeitig kann man nicht wirklich mit Engagement betreiben. Für die meisten sind es die Familie, der Beruf und ein intensives Hobby. Und das intensive Hobby ist bei mir das Schachspiel. Wenn mal etwas Zeit vorhanden ist oder wenn so schöne Veranstaltungen laufen wie im November letzten Jahres in Bonn, „Man versus Machine“ (Kramnik gegen DeepFritz), gehe ich sehr gerne hin. Oder auch, wenn ein Weltmeisterschaftskampf in der Nähe stattfindet, wie 2000 in London, Kasparow gegen Kramnik. So etwas schaue ich mir dann nach Möglichkeit vor Ort an.

Wie ist Ihre emotionale Beziehung zum Schach?

Schach hat für mich die Funktion, die für andere Menschen die Musik hat. Ich kann dabei wunderbar entspannen, es ist eine Enklave oder eine Oase in der Wirklichkeit, wo man Ruhe finden kann. Ich kann mich dabei sehr gut regenerieren. Wenn es mit der Familie oder im Beruf mal ein wenig zu viel wird und ich etwas Entspannung brauche, dann beschäftige ich mich gerne mit Schach. Manchmal brauche ich nicht mehr als eine viertel oder halbe Stunde und ich fühle mich wieder gut erholt.

Spielen Sie auch im Internet?

Der Konkurrenzaspekt von Schach interessiert mich nicht so sehr, wobei ich natürlich auch mal eine Partie spiele. Ich habe zwei langjährige Freunde, der eine lebt in Spanien, der andere in den USA in Washington und wir spielen Fernpartien gegeneinander. Aber ohne Computereinsatz und ohne Zeitbegrenzung, d.h., manchmal dauert ein Zug nur ein paar Tage, wenn es schnell geht; manchmal aber auch ein paar Monate, je nachdem wie wir beruflich eingespannt sind. Dementsprechend lange dauern dann auch die Partien, aber so spielen wir Schach. Das ist meine Form der Beschäftigung mit Schach, was den konkurrenzorientierten Aspekt betrifft.

Wenn Sie nicht online spielen, nutzen Sie das Internet, um Partien bzw. Wettkämpfe live zu verfolgen oder sich über News aus der Schachwelt zu informieren?

Das mache ich schon! Ich bin manchmal bei TWIC (The Week in Chess) oder auf Chessgate.de, um die neuesten Schachnachrichten zu verfolgen. Und ich besuche Seiten wie Chesscafe.com. Dort lese ich sehr gerne die Artikel von Mark Dworezki oder Yasser Seirawan. Generell habe ich ein Faible für das Außergewöhliche im Schach, also Schachkuriositäten und Besonderheiten, Merk- und generell Denkwürdigkeiten und nach so etwas halte ich immer Ausschau.

Mögen Sie auch andere Strategiespiele, wie z.B. das asiatische Go?

Eigentlich nicht. Ich denke Go ist viel zu kompliziert. Über Schach hat einmal jemand gesagt, „Schach ist zu kompliziert, aber nur ein bisschen“. Es geht leicht über das menschliche Fassungsvermögen hinaus, aber nicht ins bodenlose. Während Go, und das sieht man z.B. daran, dass die besten Go-Programme immer noch weit davon entfernt sind, stark zu spielen, das menschliche Fassungsvermögen absolut sprengt.

Aus Ihrem Buch geht hervor, dass Sie auch boxen
.

Ja, aber nur in überschaubarem Maße. Das ist ein sehr guter Ausgleich.

Sehen Sie Gemeinsamkeiten zwischen Boxen und Schach?

Ich sehe das eher konträr. Meine Arbeit und das Schachhobby sind sehr cerebral ausgerichtet und wenn man dann noch so eine erdige Sache wie Boxen betreibt, dann ist das ein ganz guter Ausgleich. Wenn man immer nur seinen Kopf trainiert, ist das ein wenig zu einseitig, das ist zumindest meine Erfahrung. Insofern habe ich mich damals gefragt, was ist von Schach und Mathematik am weitesten entfernt. Und da kam ich auf Boxen.

Teil1: Von der Zettelsammlung zum Buch

Sprechen wir über Ihr Buch. Haben Sie mit der positiven Resonanz bezüglich ihres Buches gerechnet?

Nein, mit dieser positiven Resonanz habe ich bei weitem nicht gerechnet.

Sie hatten bereits vor 30 Jahren (!) erste Ideen für ein Buch gehabt. Warum hat es so lange gedauert bis Sie diese in Buchform umgesetzt haben?

Ich hatte immer schon ein Faible für Worte, etwas zu schreiben oder aufs Papier zu bringen. Bereits vor sehr vielen Jahren habe ich darüber nachgedacht, ein Buch zu schreiben. Meine erste Idee war es, ein Buch über Mathematik zu schreiben, da Mathematik schon immer meine Leidenschaft war. Dann kam die Idee eines über Schach zu schreiben. Und ich habe sogar schon einmal über einen Thriller nachgedacht. Oder jetzt, da meine Kinder noch klein sind, all die Geschichten, die ich mir für sie ausgedacht habe, zu einem Kinderbuch zu machen. Oder sogar ein Kochbuch, denn ich esse auch sehr gerne (lacht). Ein paar Mathematikbücher habe ich bereits geschrieben, ein Schachbuch ist jetzt auch dazu gekommen. Die anderen Sachen hebe ich mir vielleicht auf bis ich im Ruhestand bin.

Aber was Ihre konkrete Frage betrifft, ich bin so eine Art moderner Neanderthaler, eine Art Jäger und Sammler und wenn ich irgendwann mal einen interessanten Gedanken habe oder etwas Interessantes sehe, ganz egal worum es sich dabei dreht, dann nehme ich mir einen Zettel und schreibe es auf bzw. mache ein paar Stichpunkte dazu. Und für all diese Notizen habe ich einen Zettelkasten und es macht mir Spaß diesen Kasten hin und wieder durchzusehen und mich daran zu erfreuen, was sich über die Monate und Jahre so angesammelt hat. Und so haben sich auch viele Schachthemen angesammelt.

Dass heißt, die Ideen aus Ihrem Buch standen bereits auf einem Ihrer Zettel, zumindest als Stichpunkt.

Nicht alle, aber einige Dinge, wie z.B. die Fischer-Zahl, die ich mir ausgedacht habe. Oder ein paar Überlegungen zur Geometrie des Schachbretts. Aber auch interessante Studien und deren wunderbare Lösungen, auf die ich irgendwann einmal gestoßen bin. Als ich mich vor fünf Jahren entschlossen habe die Ideen aus diesem Zettelkasten zu Papier zu bringen, kam bei meinen Recherchen noch viel neues Material hinzu. Wobei ich noch hinzufügen möchte, dass das Material aus meinem schachlichen Zettelkasten erst zur Hälfte abgearbeitet ist.

Das heißt, es könnte eventuell mal ein zweites Schachbuch von Ihnen folgen?

Mittelfristig könnte vielleicht ein zweites Buch entstehen, aber ich habe gemerkt wie zeitraubend ein solches Projekt ist. Eine lose Zettelsammlung, selbst wenn inhaltlich bereits viel gutes Material vorliegt, in ein gutes Endprodukt zu überführen, kostet unheimlich viel Zeit. Besonders dann, wenn sich alles neben den beruflichen Verpflichtungen abspielen muss. Das sollte man nicht unterschätzen.

Sie haben in Ihrem Buch die unterschiedlichsten Facetten des Schachs angerissen, z.B. die Entwicklungsgeschichte des Schachs, psychologische oder philosophische Aspekte im Schach und sogar etwas Regelkunde. In dem Kapitel „Gesetzeslücken“ haben Sie auf Schwächen im früheren Schach-Regelwerk hingewiesen. Sie erwähnen z.B. die Möglichkeit der vertikalen Rochade (weißer König e1, weißer Turm e8), in Ihrem Buch bezeichnen Sie diese Rochade sehr nett als die „superlange Rochade“. Ich selber bin Nationaler Schiedsrichter und kann sagen, dass nicht viele Spieler diese Regelspitzfindigkeiten kennen.

Regelfest in dem Sinne wie Sie das vielleicht denken bin ich nicht. Die vertikale Rochade war ein Punkt auf den ich zufällig gestoßen bin und den ich weiter verfolgt habe. Nach der alten Fassung der Rochaderegel im FIDE-Regelwerk wäre sie völlig legal gewesen. Denn auch der Turm e8 hat noch nicht gezogen, er ist ja gerade erst entstanden. Und dann kam wieder meine Ader für Kuriositäten ins Spiel. Als ich das entsprechende Kapitel geschrieben hatte, habe ich es mit Material angereichert, das ich selbst recherchiert hatte. Ein paar weitere Dinge hat mir GM Christopher Lutz genannt, der das Buch für den Chessgate-Verlag lektoriert hat. Insgesamt  wurde daraus ein rundes Kapitel.

ChristianHesseInterview-3.jpgChristianHesseInterview-4.jpg
 
Die Vertikalrochade nach einem Schachproblem von Pam/Krabbé aus Hesses Expeditionen in die Schachwelt: der letzte weiße Zug war e8T (linkes Diagramm), nach …Kg2 folgt das Matt durch Ausführung der Vertikalrochade, deren Endposition im rechten Diagramm zu sehen ist

Sie sind auch Kunstliebhaber, ich meine nicht nur Kunst- und Problemschach, sondern reale Kunst. Eine wunderschöne Graphik des Künstlers Ugo Dossi schmückt das Cover Ihres Buches. Wo haben Sie Ugo Dossi kennen gelernt?

Ugo Dossi habe ich über die Arbeit an meinem Buch kennen gelernt. Im Internet stieß ich auf seine wunderschönen Schachgraphiken. Ich habe mir gedacht, ich müsste unbedingt Kontakt mit ihm aufnehmen und ihn fragen, ob er so etwas für mein Buch machen könne oder ob ich eine von seinen Graphiken verwenden könne. Das ist jetzt vielleicht 3 Jahre her. Daraus hat sich ein intensiver Kontakt ergeben und mittlerweile auch eine Freundschaft. Ugo hat wunderbare Graphiken geschaffen, die mit zu den schönsten künstlerischen Umsetzungen von Schach und Schachpartien zählen. 2005 gab es in der Tretjakow-Galerie in Moskau, einer der bedeutendsten und größten Galerien Russlands, eine große Ausstellung, in der Ugo die besten Partien Kramniks graphisch umgesetzt hat.

Bei der Gelegenheit haben Sie auch Vladimir Kramnik kennen gelernt?!

Kramnik war auch anwesend und wir fanden sofort einen sympathischen Austausch. Wir haben uns gleich recht gut verstanden und sehen uns hoffentlich weiterhin ab und zu wie z.B. zuletzt in Bonn beim Wettkampf Kramnik gegen DeepFritz. Das gehört für mich zu den erfreulichen Begleiterscheinungen dieses Buchprojektes, dass ich sehr interessante Menschen aus der Welt des Schachs und ihren verschiedenen Facetten kennen gelernt habe. Ugo Dossi und Vladimir Kramnik sind nur zwei davon.

ChristianHesseInterview-5.jpg
 
Christian Hesse im Gespräch mit Vladimir Kramnik in Moskau 2005. Rechts sich nach vorne beugend: Ugo Dossi.

…Lothar Schmid ist ein weiterer…

Lothar Schmid hat meine Arbeit dadurch erleichtert, dass er mir seine Schachbibliothek für abschließende Recherchen zur Verfügung gestellt hat. Ich bin dazu einige Male nach Bamberg gefahren.  Er hat mir in liebenswerter Gastfreundschaft seine Zeit geopfert, um mir seine Bibliothek zu zeigen. Ich war mehr als beeindruckt. In sieben großen Zimmern hat er mehr als 50000 Schachdokumente untergebracht, wunderbare Einzelstücke wie z.B. das erste Buch von Lucena, 1497 erschienen, von dem es nur noch acht Exemplare auf der Welt gibt. Oder ein anderes wertvolles Buch, bei dem Siegbert Tarrasch eigenhändig interessante Notizen an den Rand geschrieben hat. Es war ein wunderbares Erlebnis, sich diese Bibliothek von Lothar Schmid zeigen und erklären zu lassen. Ich habe ihn auch als Person sehr schätzen gelernt.

ChristianHesseInterview-6.jpg

GM Lothar Schmid

„Expeditionen in die Schachwelt“ ist Ihr erstes Schachbuch, vorher haben Sie aber auch schon mathematische Bücher geschrieben. Wo liegt Ihrer Meinung nach dabei der Unterschied? Was ist schwerer zu schreiben?

Zwischen dem Schreiben von Schach- und von Mathematikbüchern gibt es schon eine gewisse Ähnlichkeit. In beiden Disziplinen geht es um Muster bzw. Mustererkennung. Mathematik wird auch die Wissenschaft der Muster genannt. Zum Beispiel geht es bei der Geometrie um Muster im Raum oder in der Ebene. Wahrscheinlichkeitstheorie ist die Wissenschaft von den Mustern in Zufallsprozessen usw. Und auch Schach und Schachspielen hat sehr viel mit Mustern zu tun. Sehr starke Schachspieler haben, so neuere Forschungen, bereits etwa 100000 verschiedene Schachmuster, sogenannte Chunks, in ihrem Kopf gespeichert, die sie jederzeit abrufen können. Und diese Top-Spieler spielen mit ganz anderen Hirnarealen Schach als z.B. ein Anfänger. 

Es gibt neuere Untersuchungen von Neurologen wie z.B. Amidzić, der festgestellt hat, dass der Teil des Gehirns, der für das Speichern und Abrufen von Informationen zuständig ist, bei Supergroßmeistern sehr viel stärker aktiviert ist als bei Anfängern. Starke Spieler können ihr Wissen über bestimmte Spielpositionen einfach abrufen und „fühlen“ dadurch den richtigen Zug. Anfänger haben viel weniger Muster gespeichert und müssen neue Spielpositionen immer wieder neu durchanalysieren und bewerten. Insofern hat Schach genau soviel mit Mustern zu tun wie die Mathematik.

Das Schachbuch war vielleicht etwas schwerer zu schreiben, weil es viel mehr zu überprüfen gab. Ich wollte jede Aussage darin so gut es geht überprüfen. Jeden Zug in jeder Variante, selbst dann, wenn ich die Züge als Analyse von jemanden übernommen habe, habe ich jede Analyse nochmals überprüft. Und das fand ich sehr mühsam, wobei ich sagen muss, die Arbeit am Buch war mir nie wirklich zu viel, weil es eigentlich ein reines Spaßprojekt war. Ich konnte ohne Zeitdruck arbeiten und habe das nur gemacht, wenn ich Lust dazu hatte. Manchmal war das nur eine viertel Stunde, manchmal aber auch drei bis vier Stunden, abends ab 10 Uhr. Und sobald mich die Lust verlies habe ich sofort den Griffel beiseite gelegt oder das Notebook zugeklappt.

In Ihrem Buch gibt es eine schöne Abbildung, auf der Sie vor einer meterhohen Tafel sitzend mit einem Notebook auf dem Schoß an Ihrem Buch arbeiten. Auf der Tafel haben Sie Inhalte Ihres Buches skizziert. Gibt dieses Bild einen Eindruck Ihrer Arbeitsweise wieder?

Eigentlich arbeite ich sehr altmodisch. Nämlich so, wie Mathematiker typischerweise arbeiten, mit Papier, Bleistift und Papierkorb. Besonders mit Papierkorb. Sie als Physiker kennen vielleicht die Geschichte, in der sich ein Universitätspräsident beklagt: „Ihr als Physiker braucht immer so ungeheuer teure Maschinen und kostspielige Labors. Nehmt Euch ein Beispiel an den Mathematikern. Die brauchen nur Papier und Bleistift und Papierkorb. Oder noch besser an den Philosophen. Die brauchen nur Papier und Bleistift.“ Moderne Autoren arbeiten natürlich eher mit einem Notebook und jonglieren mit Dateien. Das mache ich nur in der Endphase. Auch im Vergleich zu meiner Frau, die sich mit Kommunikationsforschung beschäftigt und an der vordersten Front von den ganzen Multimedia-Erscheinungen ist, bin ich eher altmodisch, vergleichsweise steinzeitlich – auf dem Stand von Schiefertafel und Griffel.

ChristianHesseInterview-7.jpg
 
Christian Hesse bei der Arbeit an seinem Buch

„Viele halten Fischer für den größten Spieler aller Zeiten“, dies ist ein Zitat aus Ihrem Buch. Deckt sich dies mit Ihrer persönlichen Meinung?

Ob Fischer der stärkste Spieler aller Zeiten ist, kann ich aus meiner Perspektive nur schlecht beurteilen, da wäre ich zu sehr auf Intuition angewiesen. Aber wenn man hört, was Spieler, die auf gleicher Augenhöhe waren oder sind, so über ihn sagen…, selbst Tal sagte einmal, dass Fischer für ihn der Größte sei. Auch Kasparow hat gesagt, für ihn sei Fischer der größte Weltmeister. Das sind sehr gewichtige Aussagen von Leuten, die es beurteilen können. Aber von meiner Warte aus kann ich es nicht wirklich beurteilen, ich bin auf solche Aussagen angewiesen. Als Gesamterscheinung, denke ich, ist Fischer die faszinierendste Persönlichkeit, mit allen Sonnen- und Schattenseiten, die das Schach hervorgebracht hat. Und er machte Schach immer zu etwas Außergewöhnlichem, immer wenn er sich ans Brett gesetzt hat, und oft auch davor und danach.

Sie haben Kramnik als Mensch kennen- und schätzen gelernt. Wie glauben Sie, ist er schachlich einzuordnen? Ist er ein würdiger Weltmeister?

Ja, eindeutig! Er ist ein mehr als würdiger Weltmeister! Er ist zudem ein Mensch, der Würde ausstrahlt. Schon wie er sich beim Weltmeisterschaftskampf in Elista verhalten hat, hat mir sehr imponiert. Das Verhalten von Topalov dagegen hat mir eher missfallen. Kramnik war am Brett der bessere Spieler, er war von seinen Verhaltensweisen der korrektere von beiden und er ist in jedem Fall ein würdiger Weltmeister, mit positiver Ausstrahlung, auch über das Schach hinaus.

Hätten Sie auch ein Angebot von Topalov angenommen, in Ihrem Buch ein Vorwort zu schreiben?

Ja, schon. Auch Topalov sagt und schreibt interessante Dinge und zieht interessante Züge.

Wie kommentieren Sie die Geschehnisse in Elista, das Team-Topalov hat mögliche Betrugsvorwürfe gegen Kramnik geäußert? Waren das ausschließlich psychologische Spielchen?

Da war natürlich sehr viel Psychologie dabei. Im Schach kommt es extrem auf Psychologie an. Und es ist Topalov ja auch gelungen, den Wettkampf, als er zurücklag, stark zu psychologisieren. Kramnik war zunächst schockiert und hat zwei Partien in Folge verloren, bevor er sich wieder stabilisieren konnte. Die Anschuldigungen halte ich für lächerlich. Man hat in der Decke in Kramniks Toilettenraum ein Kabel gefunden, aber viele Wände enthalten Kabel. Die Frage ist eher, ob man das Kabel hätte nutzen können.  Und selbst wenn man es hätte nutzen können, ob man es tatsächlich genutzt hätte. Das halte ich bei Wladimir Kramnik für ausgeschlossen.

Nachdem, was ich über die Kontrollen weiß, und es wurde ja alles so streng kontrolliert, als ob man einen Flieger besteigt, - es wurden bei den Spielern Leibesvisitationen mit elektronischen Geräten durchgeführt - gab es für keine Seite eine Möglichkeit da irgend etwas Krummes zu machen.

Es gibt jetzt zwar mit Kramnik einen einzigen Weltmeister, aber der Weltmeisterschaftsmodus wird ständig verändert. Und Kramnik soll im Falle eines Scheiterns bei der nächsten Weltmeisterschaft in Mexiko im Okt./Nov. dieses Jahres einen Revanchekampf bekommen.

Zunächst einmal möchte ich sagen, dass ich mit den Turnieren im k.o.-Modus, welche die FIDE jetzt schon seit über 10 Jahren etabliert hat, nie so richtig glücklich war. Einfach, weil es ein viel stärkeres Zufallselement in das Ergebnis mit eingebracht hat als dies noch beim alten System mit Kandidatenwettkämpfen usw. der Fall war. Ich glaube auch, dass die Schachwelt, also die Schachfans, diese Zweikämpfe, diese einzigartigen Titanenkämpfe über 12, 20 oder 24 Partien deutlich mehr schätzt als ein k.o.-Turnier. Man sollte und will wohl auch eine Möglichkeit finden, das jetzige System wieder in diesen alten Modus zu überführen. Und da halte ich es für sinnvoll, dass Kramnik, dem man zu Gute halten muss, dass er als Weltmeister überhaupt an diesem Achterturnier in Mexiko teilnimmt, eine Chance zu einer Revanche bekommt, sollte er das Turnier nicht gewinnen. Das halte ich für völlig in Ordnung.

Glauben Sie, dass es generell möglich ist im Schach zu betrügen, insbesondere im Profischach? Leider wurden im Januar diesen Jahres beim Turnier im holländischen Wijk aan Zee erneut Betrugsvorwürfe geäußert, diesmal gegen das Team Topalov. Topalovs Manager, der Internationale Meister Silvio Danailov, soll seinem Schützling durch auffallende Mimik und Gestik und durch direktren Sichtkontakt Informationen über seine laufenden Partien übermittelt haben. 

Im Schach ist es durchaus möglich zu betrügen. Manche Partien werden ohne Zeitverzögerung ins Internet übertragen. Wenn jemand ein starkes Programm mitlaufen lässt, hat man in der Regel nach wenigen Sekunden einen sehr starken Zug, sei es von Fritz, Shredder, Rybka oder welchem Programm auch immer. Und diesen Zug kann man mit einem Handy überall auf die Welt hin versenden. Und wenn man es dann noch schafft diesen Zug irgendwie der Person am Brett zukommen zu lassen, dann ist das sicher ein sehr großer Vorteil für den Spieler. Man darf auch nicht vergessen, dass es bei einem Supergroßmeister bereits reicht, in zwei oder drei kritischen Situationen eine derartige Hilfe zu geben. Das kann bei dem Niveau, bei den Fähigkeiten, die diese Spieler besitzen, bereits ausschlaggebend sein.

Im Internet habe ich mir dieses Video angesehen, welches Topalovs Manager, Herrn Danailov, beim Turnier in Wijk aan Zee zeigt, allerdings 2006. Ich weiß nicht, ob die Gestik von Herrn Danailov teil seines normalen Verhaltensrepertoires ist, aber aus meiner Sicht war die Darbietung zumindest verhaltensauffällig. Es sieht nach einer Form von Kommunikation aus. Nach meiner Einschätzung ist es gravierend genug, um eine Untersuchung einzuleiten. Es gibt ja auch noch anderes Filmmaterial aus San Luis, wo 2006 die Weltmeisterschaft stattfand. Und jetzt Wijk aan Zee 2007. Man sollte dieses Filmmaterial von einer unabhängigen Kommission sichten lassen, die FIDE–Ethik-Kommission würde sich anbieten und dann könnte man daraus seine Schlüsse ziehen. Aus der Ferne etwas zu beweisen ist natürlich sehr schwer. Aber wenn dies ein wiederholter Vorgang ist und man die Signale mit verschiedenen Zugentscheidungen in Zusammenhang bringen kann, dann wäre das natürlich ein starkes Indiz für eine Manipulation. Jedenfalls ist die Schachwelt jetzt sensibilisiert. Und es dürfte zunehmend schwerer werden, unsaubere Sachen zu machen.

Immerhin kommt Schach dadurch in die Medien.

Ja, das stimmt, es ist aber eine sehr zwiespältige Sache. Meldungen über Betrug im Schach tun dem Schach insgesamt sicher nicht sehr gut, insbesondere werden dadurch ja auch Sponsoren abgeschreckt.  
Bobby Fischer hat damals mit seinen vielen Machenschaften, die in der Öffentlichkeit weitestgehend als negativ angesehen wurden, Schach in die Medien gebracht. Das war wichtig. Natürlich hatte das ein anderes Niveau und Fischer war in diesem Sinne nie unsauber.

ChristianHesseInterview-8.jpg

Christian Hesse

Sehen Sie die Gefahren des Betrugs auch im Amateurbereich? Sie kennen sicher den  Fall „Clemens Allwerman“, der ist fast schon ein Klassiker. Allwerman hat sich beim Böblinger-Open 1998 Züge über einen Mini-Ohrhörer übertragen lassen. Legendär seine Ankündigung Matt-in-8-Zügen in der letzten Runde gegen Großmeister Sergej Kalinitschew.

Im Amateurbereich ist das unter Umständen ein noch viel gravierenderes Problem. Erstens gibt es da natürlich nicht die Möglichkeit für Kontrollen. Welcher Amateurveranstalter kann sich elektronische Kontrollen etc. leisten? Und zweitens sind die Computerprogramme sehr viel stärker als die Amateurspieler. Der Nutzen von Schachprogrammen wäre für einen Amateur also im Verhältnis gesehen noch viel größer als beim Profi. Das ist ein sehr ernstes Problem. Frederic Friedel hat ja damals die Partien von Allwerman bei der Böblinger Veranstaltung Anand gezeigt. Anand hat gleich den Fritz erkannt.

Wie sehen Sie die Tendenz vieler Spieler zu Kurzremisen? Sehen Sie Bedarf an den Regeln etwas zu ändern? Das ist ja etwas, was derzeit in der Schachpresse diskutiert wird, z.B. ein generelles Remisverbot oder ein Verbot bis zum 30. oder 40. Zug.

Diese Kurzremisen gibt es fast schon so lange wie Turnierschach gespielt wird. Aus meiner Sicht gibt es keine funktionierende Methode diese abzuschaffen. Wenn man zum Beispiel ein Remisangebot vor dem 30. Zug verböte, können die Spieler es sich so einrichten, dass es dann eben erst nach dem 30. Zug zum Remis kommt. Es gibt keine sinnvolle Möglichkeit diese sogenannten Großmeisterremis zu verhindern! Umgekehrt ist es für die Spieler immer eine gute Möglichkeit Kräfte zu sparen, was man auch gut verstehen kann, wenn man bedenkt, dass Schach auf höchstem Niveau eine extrem anstrengende Angelegenheit ist. Wenn man bei einem Turnier jeden Tag dieser Anstrengung ausgesetzt ist, laugt einen das körperlich und mental aus. Das sollte man auch bedenken.

Teil2: Ideen für eine erfolgreiche Schacholympiade 2008

Wie sehen Sie gegenwärtig die Situation des Schachs in Deutschland?

Ich erinnere mich noch an die 70er Jahre, als Robert Hübner seine große Zeit hatte. Das war wirklich sehr faszinierend, was die Person Hübner für das Schach ausgelöst hat. Über den Wettkampf im Kandidatenfinale gegen Kortschnoi wurde damals sogar im aktuellen Sportstudio berichtet, was heute kaum denkbar wäre. Und das alles hat einen kleinen Schachboom ausgelöst. Der hätte sogar noch größer werden können, wenn Hübner sein Leistungsniveau länger hätte halten können.

Die aktuelle Situation des Schachs in Deutschland ist nicht so positiv. Das liegt auch an dem Bild, das Schach in der Öffentlichkeit hat oder auch nicht hat. In Russland bzw. in der damaligen Sowjetunion ist Schach Volkssport, da genießen Schachspieler ein ganz anderes Ansehen. In Deutschland dagegen haben selbst die besten Spieler Schwierigkeiten allein vom Schach zu leben und müssen daher andere Berufe nebenher ausüben,  um dann noch weniger Zeit fürs Schach zu haben und daher nicht konkurrenzfähig auf allerhöchster Ebene zu sein.

Die Deutsche Schachbundesliga gilt als die stärkste Liga der Welt, es gibt aber kaum noch Deutsche Spieler in der Liga. Der Großteil der Spieler stammt aus dem Ausland.

Ich finde das nicht schlimm! Im Gegenteil, ich finde das sogar sehr gut. Das bringt Topspieler aus der ganzen Welt nach Deutschland. Im Fußball ist es ja nicht anders und die Zuschauer freuen sich die Stars zu sehen. Und es ist wunderbar Schachstars wie Anand,  Shirov oder Svidler live erleben zu können. Ich selber lebe in Mannheim und habe es da nicht so weit nach Mainz. Und das eine oder andere Mal bin ich bei den Chess Classic in Mainz gewesen und habe die Schachstars live erlebt, oder auch noch besser in Linares. Abends nach den Partien essen Spieler und Sekundanten im Speisesaal des Hotels Anibal, wo das Turnier stattfindet und die Spieler untergebracht sind. Das ist ein überschaubarer Raum, und man kommt ins Gespräch.

ChristianHesseInterview-9.jpg
 
Vishy Anand bei den Chess Classic Mainz 2003

Welche Erwartungen haben Sie an die Schacholympiade nächstes Jahr in Dresden?

Das wird sicher ein sehr schönes Event, das potentiell große Wirkung für das Bild des Schachs in der Öffentlichkeit hat. Dazu muss dann aber auch ein gutes Rahmenprogramm stattfinden. Ein Schlüsselerlebnis für mich war die Veranstaltung im November letzten Jahres in Bonn in der Bundeskunsthalle: der Wettkampf „Man versus Machine“–Kramnik gegen DeepFritz. Die Veranstaltung erstreckte sich über sechs Partien, daneben gab es noch ein wunderbares Rahmenprogramm, organisiert von Stephan Andreae. Es gab Vorträge über Philidor von der Theaterwissenschaftlerin Dr. Susanna Poldauf untermalt mit schöner Musik.

Prof. Ernst Strouhal, der Wiener Kulturwissenschaftler, hat über Kempelens Schachautomaten gesprochen. Der Kunsthistoriker Prof. Holländer hat über Schach und die Methaphorik vorgetragen. Matthias Wüllenweber von Chessbase zeigte, wie Computer mit ähnlichen Algorithmen wie bei der Suche nach optimalen Zügen auch Melodien errechnen können. Es gab eine große Podiumsdiskussion, an der ich selber teilnehmen konnte, bei der es um die Ästhetik im Spiel und in der Wissenschaft ging. So ein schönes buntes und intensives Rahmenprogramm könnte ich mir auch sehr gut für die Schacholympiade vorstellen. Die Spieler sprechen natürlich für sich durch ihre Partien. Und es wird ganz sicher wieder spannende und schöne Partien geben. Das wird nicht das Problem sein. Aber das Rahmenprogramm muss auch begeistern.

Könnte so eine Veranstaltung sogar einen Schachboom in Deutschland auslösen?

Das denke ich schon! Insbesondere dann, wenn es den Deutschen Mannschaften gelingen wird positiv abzuschneiden. Und natürlich umso mehr, je häufiger davon in den Medien berichtet wird, hoffentlich auch im Fernsehen. Vielleicht in Sondersendungen sogar mehrmals in der Woche, selbst wenn die Übertragungen spät am Abend ausgestrahlt würden. Ich könnte mir noch viele andere Sachen vorstellen, z.B. Ausstellungen von Künstlern mit dem Thema Schach. Schauspieler, die sich für Schach interessieren, könnten Lesungen aus Büchern halten, die sich mit Schach beschäftigen. So etwas gab es ja bereits einmal 2004 in der Bundeskunsthalle bei einem Kramnik-Simultan u.a. gegen die Deutsche Frauen Nationalmannschaft mit Elisabeth Pähtz. Es ist sehr viel denkbar. Man könnte auch DeepFritz gegen die Welt spielen lassen, wie dies Kasparov seinerzeit gemacht hat. Je bunter und breitgestreuter das ganze Rahmenprogramm sein wird, desto besser und desto mehr Personen fühlen sich angesprochen.

Werden Sie die Olympiade vor Ort besuchen?

Ganz sicher werde ich hinfahren. So ein Ereignis gewissermaßen in der Nachbarschaft sollte man sich nicht entgehen lassen.

Hans-Walter Schmitt, der Organisator der Chess Classic Mainz, hat den Slogan geprägt „Schach muss lauter werden“. Haben Sie noch eine Idee, wie man Schach „lauter“ machen kann?

Eine gelungene Formulierung. Ich würde dieser akustischen Metapher noch eine optische hinzufügen: Schach muss sichtbar werden. Schach ist für mich das unsichtbare Spiel. So gut wie alles im Schach ist unsichtbar. Es sind gerade mal die Figuren auf dem Brett sichtbar. Aber das ist nur die Oberfläche, das, was wirklich zählt ist das, was sich unter dieser Oberfläche abspielt und das ist eben in den Köpfen der Spieler. Im Grunde könnte das Spiel sogar noch unsichtbarer sein, nämlich dann, wenn man den Spielern das Brett und die Figuren auch noch weg nimmt und Blindschach spielen lässt wie beim Amberturnier in Monaco. Also, Schach ist dann völlig unsichtbar und selbst die Emotionalität ist unsichtbar. Schauen Sie sich einmal andere Sportarten an wie z.B. Fußball; nirgendwo sonst sieht man solche Emotionen als wenn beim Fußball ein wichtiges Tor fällt. Vergleichbar sind vielleicht gerade noch Rockkonzerte, aber beim Schach ist die Emotionalität, die ja grundsätzlich immer da ist, völlig internalisiert und damit unsichtbar.

Auch dazu gibt es Studien von Psychologen, die sagen, dass Schachspieler bei einer wichtigen Turnierpartie, bzw. einer Partie, die auf des Messers Schneide steht, fast das ganze Spektrum menschlicher Gefühle durchleben. Es wird soviel Adrenalin wie beim Extrembergsteigen, Tiefseetauchen oder Paragliding ausgeschüttet. Es ist im Körper und im Kopf des Schachspielers also sehr viel im Gange, aber man sieht dies alles nicht. Man muss Schach erstmal sichtbar machen und dann muss man es auch lauter machen. Und wie kann man Schach lauter machen? Man muss zum Beispiel die großen Events stärker emotional zelebrieren.

Sehen Sie sich nur einmal an, wie es etwa beim Boxen ist, wenn einer der Klitschkos um die Weltmeisterschaft kämpft. Wie Gladiatoren laufen die Kämpfer ein, von musikalischer Untermalung begleitet, jeder wird einzeln vorgestellt usw. Natürlich kann man das nicht 1:1 übernehmen, aber ein wenig lernen davon kann man schon. Auch Schach ist ja eine Kampfsportart, eine geistige Kampfsportart, und bei der ersten Partie irgendeinen Prominenten symbolisch den ersten Zug machen und mit den Spielern in die Kamera schmunzeln zu lassen, ist doch ein bisschen mager.

Man muss Schach zudem auch viel bunter machen, gerade auch für Menschen, die nur ein rudimentäres Verständnis für Schach haben, um auch bei diesen im Kopf den Samen auszustreuen, dass Schach doch eine ganz interessante Sache ist und dass die Welt des Schachs vielen Menschen viel Interessantes bieten kann. Wichtig ist auch zu zeigen, dass sich viele interessante Persönlichkeiten mit Schach beschäftigt haben, selbst Menschen, die man nicht unbedingt mit Schach in Verbindung bringt, die aber andere große Leistungen vollbracht haben, und daneben auch eine Liebe zum Schach hatten, von Athahualpa bis Zatopek. Viele US-Präsidenten oder Päpste waren dem Schach zugetan. Papst Johannes Paul II war begeisterter Schachspieler und soll sich in seinen jungen Jahren sogar an der Komposition von Schachproblemen versucht haben.

Wie sehen Sie die Zukunft des Schachs? Ich habe den Eindruck, dass Sie diesbezüglich sehr optimistisch sind. Sie fürchten weder den Remistod noch eine zunehmende Computerisierung!?

Der Zukunft des Schachs sehe ich sehr optimistisch entgegen. Der Remistod wurde schon vor hundert Jahren prognostiziert. Und es ist davon heute noch nichts zu sehen. Es ist so, dass sich die Fähigkeiten der Spieler verbessert haben, sowohl in der Angriffsführung als auch bei der Verteidigung. Die Topspieler haben heutzutage eine sehr hohe technische Feineinstellung, sodass selbst winzigste Vorteile in einen Sieg umgemünzt werden können. Das hat es vor hundert Jahren so noch nicht gegeben. Und diese Entwicklung wird sicher weitergehen. Diese Subtilisierung des Kampfes, die immer feiner werdende Ausschöpfung von Stellungsvorteilen wird auf lange Sicht verhindern, dass es so etwas wie den Remistod gibt.

Hat das Duell Mensch gegen Maschine noch eine Zukunft? Oder hat die Maschine den Menschen schon überflügelt?

Vielleicht hat es noch ein paar Jahre eine Chance und dann muss man sich, damit es interessant bleibt, irgendetwas einfallen lassen, um die Maschine etwas zu bändigen. Z.B. konnte Kramnik bei seinem Duell gegen DeepFritz das Eröffnungsbuch der Maschine in Augenschein nehmen. Das sind natürlich Bedingungen wie sie sonst in Wettkämpfen nicht herrschen, aber das war halt eine Möglichkeit die Überlegenheit der Maschine, die sich abzeichnet, etwas einzuschränken.

ChristianHesseInterview-11.jpg

Kramnik beim Wettkampf „Man versus Machine“ in Bonn, November 2006

Ich habe den Wettkampf sehr genau verfolgt und war selber zweimal vor Ort. Die letzte Partie konnte ich  sogar ein wenig mitkommentieren, zusammen mit Dr. Helmut Pfleger, Artur Jussupow und Klaus Bischoff. Das war ein sehr schönes Erlebnis für mich. Von Kramniks Eröffnungswahl war ich sehr beeindruckt, gegen einen Computer das Sizilianische Najdorf-System zu spielen, sich auf die gefährlichsten Varianten einzulassen, das war schon eine sehr mutige Entscheidung von Kramnik.
Was ich sehr spannend fände, wäre eine Beratungspartie von mehreren Großmeistern gegen ein Spitzen-Computerprogramm wie DeepFritz, Rybka oder Shredder.

Das könnte vielleicht auch ein Teil des Olympischen Rahmenprogramms sein. Beratungspartien waren ja vor hundert Jahren sehr modern, damals haben zwei oder drei Amateure gegen einen Meisterspieler gespielt. Warum soll das heute nicht auch mit Computern funktionieren? Sehr interessant wäre dann vor allem,  wie sich die Großmeister gedanklich austauschen, wie sie sich unterhalten und wie sie sich über ihre Zugfindung äußern. Ihren Gedankengängen zu folgen, als Beratende gegen ein entfesselt spielendes Spitzen-Schachprogramm, das würde mir sehr gut gefallen!   

Wie finden Sie die moderne Schachvariante Chess960, bei der die Grundstellung der Figuren ausgelost wird?

Ich kann verstehen, dass diese Variante des Schachs ihre Anhänger hat. Ich selber habe aber eine konservative Meinung dazu, ich bin eher pro Schach, also für das klassische Schach und nicht so sehr für die ganzen Schachvarianten. Ich glaube auch die meisten Zuschauer bevorzugen das klassische Schach. Aber es bleibt abzuwarten wie sich Chess960 in der Zukunft entwickelt.  

Wie sind Ihre zukünftigen Pläne?

Ich könnte mir durchaus vorstellen irgendwann ein weiteres Schachbuch zu schreiben. Mein schachlicher Zettelkasten enthält noch viel Material. Aber zunächst einmal plant der Chessgate-Verlag mein Buch ins Englische zu übersetzen. Ich selbst würde mich freuen, wenn es noch in weitere Sprachen übersetzt werden würde, aber das ist alles Zukunftsmusik.

Im Moment arbeite ich an einem anderen Buchprojekt. Dabei geht es um so etwas ähnliches wie bei „Expeditionen in die Schachwelt“, nur auf dem Gebiet der Mathematik, sozusagen mathematische Expeditionen. Motivation für das Schachbuch war es, einige Highlights aus der Welt des Schachs so zu präsentieren, dass auch Menschen, die dem Schach etwas ferner stehen, einen Genuss daraus ziehen können. So etwas versuche ich auch für die Mathematik zu schreiben. Ich möchte gerne die Highlights aus 4000 Jahren Beschäftigung mit Mathematik in Buchform bringen. Ähnlich wie es beim Schach so bekannte Muster wie das Läuferopfer auf h7 oder die Springergabel gibt, so gibt es in der Mathematik bestimmte Problemlösungsmuster, welche die Mathematik im Laufe der Jahre entwickelt hat, Denkwerkzeuge gewissermaßen. Der Arbeitstitel des Buches lautet „Das kleine Einmaleins des klaren Denkens“.

ChristianHesseInterview-12.jpg

…nach dem Interview

Herr Hesse, ich bedanke mich recht herzlich für das ausführliche Interview und wünsche Ihnen für die Zukunft alles Gute.

Text, Hesse-Bilder und Interview: Oliver Breitschädel

Ergänzung des Referenten für Öffentlichkeitsarbeit:

Oliver Breitschädel ist Mitarbeiter des sogenannten Artikeldienstes, einer Gruppe freier Mitarbeiter, die Themen rund um die Schach-Olympiade anbieten oder themenbezogene Artikel schreiben und Interviews führen. Auch dieses Interview ist mit großer Sorgfalt und viel Liebe zum Detail entstanden.

Hesse äußert sich in einem Absatz über die möglichen Betrugsversuche Danailovs/Topalovs, spricht aber gleichzeitig Kramnik vorher von jedem Verdacht frei. Ich möchte mich gern von dieser Sichtweise distanzieren und habe den betreffenden Absatz nur deswegen im Interview belassen, um die durchweg gute Arbeit meines Kollegen nicht zu "zerstören". Ich halte inzwischen - soviel Freiheit muss einem Redakteur zustehen, zumal mir auch einst kritiklose Sichtweise auf die Dinge vorgeworfen wurde - sowohl die Betrugsvorwürfe gegen Kramnik, als auch die gegen Topalov für baren Unsinn. Diese Vorwürfe schaden dem Schachsport im Allgemeinen, daran sollten wir alle nicht interessiert sein. Was uns für kurze Zeit mediale Aufmerksamkeit brachte, schadet uns langfristig.
Dieser Artikel wurde bereits 9915 mal aufgerufen.
Veröffentlicht von Klaus-Jörg Lais



Werbung
Online-Shop der Deutscher Schachbund Wirtschaftsdienst GmbH
Hier könnte Ihre Werbung stehen!
Schachreisen Jörg Hickle
Schachkalender 2013

Aktionen
ASS Athletic Sport Sponsoring GmbH
Chess Evolution Newsletter
Pixelnet
DSB-Imagebroschüre Schach verbindet
Copyright © 1996 - 2013 Deutscher Schachbund e.V.
| Impressum