"Hallo, Frau Heffter, gerade ist der traditionelle Wettkampf Linkes / Rechtes Alsterufer, der 2008 parallel zur Schacholympiade Dresden sein 50jähriges Jubiläum hat, vorbei. Ihre Schule hat sicherlich daran teilgenommen." "Und ob. Acht Mannschaften plus Ersatzspieler, macht 70 Schüler." "Oho, ein Transportproblem." Frau Heffter ist Lehrerin an der Haupt- und Realschule Oppelner Straße in einem sozialen Brennpunkt, dem Hamburger Stadtteil Jenfeld. Achtzig Prozent Ausländer, Kinder, die nur ein paar Brocken Deutsch können, wie manchmal die deutschen auch, in der Art "Wir geh'n Fußball".
Ich sitze einer vitalen Frau mit sprühendem Temperament gegenüber, deren Augen funkeln, deren Zunge kein Halten kennt. Einmal in Fahrt, kann sie ohne Punkt und Komma reden. Durchsetzt von treffsicheren, lakonischen, ironischen Pointen.
Sie legt auch gleich los: "Ich komme aus einer Lehrerfamilie. Mein Großvater war es, mein Vater, der nebenbei auch Schachunterricht erteilte, ich mein Sohn Matthias (23) studiert in Flensburg und wird es bald auch werden. Ich habe mit 15 Jahren angefangen zu unterrichten. In der Klasse meines Vaters."
"Durften Sie das überhaupt?"
"Hat doch keiner kontrolliert. Nach meiner Ausbildung und vor der Pensionierung meines Vaters haben wir anderthalb Jahre an derselben Schule gearbeitet. Seitdem genauso mein Mann, Reinhard Heffter, und ich. Bis vor einem halben Jahr. Grund: Die Oppelner Straße wird nach und nach in eine Grundschule zurückgestuft. Er wurde in die nächstgelegene Haupt- und Realschule, Denksteinweg, versetzt. Seine Schachschüler hat er alle mitgenommen."
"Mit dem Schachunterricht an der Oppelner Straße fing es vor 17 Jahren an, seit ich dort an der 'Front' im Einsatz bin. Das kam so: Ich hatte einen besonders schwierigen Schüler, schon ausgeschult, in psychologischer Behandlung usw. Irgendwann wurde es mit ihm einfacher. Ich wollte herausfinden, woran das lag und ging in den Kindergarten, wo er betreut wurde. Was sah ich: Er war in der Obhut eines Erziehers, nicht einer Erzieherin.
Der erzählte mir: 'Ich komme eigentlich aus der Jugendbildung und bin mehr aus Versehen im Kindergarten gelandet. Ich mache mit den Kindern seit zwei Jahren Karate und Schach.' Mir fiel es wie Schuppen von den Augen. 'Karate, ne aber Schach, das geht, das schaffe ich.' Mein Mann und ich haben einen Computer gekauft und angeworfen. Das war die Geburtsstunde." "Hinzu kam, dass zu der Zeit meine Tochter (26, Juristin) und Matthias Interesse und Begabung für das Schach zeigten. Das hatte mir mein Vater eingebrockt.
Wegen meiner Berufstätigkeit musste er des öfteren die Kinder einhüten und baute ihnen ein Schachspiel vor die Nase. 1990, mit 10 und 7 Jahren, begannen Tochter und Sohn Turniere zu spielen. Ein Fulltime-Nebenjob für mich; ich war ständig als Schachmutti unterwegs, möglichst diskret im Hintergrund. Ich kann überehrgeizige Eltern nicht ausstehen. Mein Sohn war bereits mit sieben Jahren mir überlegen. Daran hatte ich zu knacken. Andererseits: Ein Lehrer muss nicht immer unbedingt besser sein.
Das ist der Lauf der Dinge und zum Teil Sinn der Erziehung: dass die jungen Menschen an einem vorbeiziehen. Für meine Ältere suchte ich zudem einen Verein in Wandsbek. Dort sagten sie: 'Wir haben gar keine Kinder in diesem Alter. Gehen Sie mal zu Christian Zickelbein.' So ging das also los."
"Auch in der Schule legten wir uns gleich mächtig ins Zeug, Wettkämpfe in der Klasse, zwischen den Klassen. Schon 1990 erste Teilnahme am Turnier Linkes / Rechtes Alsterufer. Bald eine eigene Schulschach-Meisterschaft der Oppelner Straße. Und danach habe ich sie zur Hamburger Jugendeinzelmeisterschaft gescheucht und gefahren. Bis heute. Dieses Jahr 16 Kinder."
"Die Sache weitete sich rasch aus. Die Schacharbeit nahm überhand und überschritt mein Zeitdepot als Teilzeitkraft. Ein Viertel der Zeit verschlang das Schach. Acht Jahre hatten mein Mann und ich das Glück, in Parallelklassen zu unterrichten. Das erleichterte die Dinge Koordination Kooperation erheblich. Danach übernahm mein Mann eine 4. Klasse, die er bis zum Abschluss in die 10. führte, ich gleichzeitig eine 1. Klasse, deren Weg ich bis zur 6. Klasse begleitete. Nach 2 Jahren etwa ergab sich das Zickelbein-Tutorensystem wie von selbst. Die älteren Schüler meines Mannes kamen zu den Kleinen bei mir und führten sie in die Grundlagen des Spiels ein. Natürlich mussten die besten Schüler, als Trainer eingesetzt, selbst noch trainiert werden. Diese Aufgabe übernahm zunächst Matthias, mein Sohn, der inzwischen längst Mitglied des HSK war."
"Das Ergebnis stellte sich bald ein: Wir begannen, in und um Hamburg die Titel abzuräumen. Das erweckte Neid im Kollegium, das vernehmlich murrte: 'Warum machen Sie das nur mit Ihrer Klasse?' Meine Antwort war mehr als deutlich: 'Machen Sie doch selbst Angebote: Schwimmen, Stricken, was weiß ich.' Durch die Blume gesagt hieß das: 'Investieren Sie soviel Kraft und Zeit wie ich.'
Dem anfangs überaus reservierten Schulleiter erklärte ich immer wieder: 'Ohne Schach könnte ich die Schüler nicht zähmen.' Das hat er inzwischen begriffen. Unser Hausmeister staunte auch nicht schlecht: 'Früher haben die sich nur geprügelt, heute spielen sie nur noch Schach.' Ehemalige inzwischen Klempner, Elektriker oder sonst was kommen gelegentlich zu mir nach Hause und erzählen: 'Frau Heffter, am Kiosk sprechen wir nur über Ihre Kurse und Schach.'
"Um das Schach herum entwickelten sich viele Aktivitäten und Gemeinsamkeiten. Ich habe Schüler auch privat eingeladen. Sie bekamen ein enormes Selbstvertrauen. Wenn ich allein an die Reisen nach Ibbenbüren zur Hochburg für Hauptschulschach denke. Ein Traum für Jugendliche, die nur ihre eigenen vier Wände kennen und keinen Fuß einen Zentimeter über Jenfeld hinaus gesetzt haben, vom übrigen Hamburg nichts kennen und wissen.
Die Fahrten waren zwar eine unendliche, logistische Mühe, aber mit unserem Mitsubishi-Kleinbus und dem Niedersachsen-Bahnticket schafften wir es jedes Mal. Bei finanziellen Engpässen halfen und das 'Hamburger Abendblatt' mit seiner Aktion 'Kinder helfen Kindern' oder Radio Hamburg."
Und dann funkeln ihre blauen Augen: "Jetzt, wo mein Mann versetzt wurde, übernehme ich wohl die letzte Staffel, die von der 5. zur 10. Klasse führt. Eine neue Herausforderung, inklusive Schach, auf die ich mich freue. Ich werde gewissermaßen Nachfolgerin meines Mannes."
Draußen, vor dem Cafeteria-Panoramafenster, zieht eine grimmige, glattrasierte Horde Jugendlicher (Schüler?) in merkwürdigen Klamotten und Stiefeln vorbei. "So sehen meine Schüler auch aus. Man kann's mit der Angst kriegen. Die muss man kennen." Dann, zum Abschluss, reicht sie mir anderthalb Seiten herüber: Die eindrucksvolle Liste der schachlichen Erfolge, die auf der Haben-Seite der Haupt- und Realschule Oppelner Straße stehen.
Darunter die jüngsten und stärksten: Teilnahme an der Dt. Meisterschaft 2005 in Templin (Wettkampf Klasse II) als Vertreter Hamburgs; Teilnahme am Zeichenwettbewerb "Schacholympiade Dresden 2008", Gewinn des 1. Preises, Flug nach Mallorca zur Olympiade 2004. Zusätzlich eine Skizze der Trainingsstruktur ab August 2005:
1. Ein HSK-Trainer unterrichtet unsere 1. Mannschaft. 2. Unsere ehemaligen Schüler und Schüler der Klasse 10 helfen beim Training für die Klassen 1 4 in Form einer Nachmittags-AG. 3. Alle Schach spielenden Schüler ab Klasse 8 unterrichten in einer zusätzlichen Arbeitslehrstunde eine Kleingruppe von Schülern der 2 4 Klasse. Insgesamt beteiligen sich daran 90 Grundschüler.
Mit diesem Papier hat sie sich am Wettbewerb "Beste Hamburger Sportschule" beteiligt, den das Hamburger Abendblatt ausgeschrieben hat. "Die kommen morgen zu einem Interview vorbei. Und fragen mich Löcher in den Bauch wie Sie, Herr Dohms." "Aber, aber, Frau Heffter, war's so schlimm?" "Im Gegenteil." "Alles, alles Gute, Frau Heffter, weiterhin. Und vielen, vielen Dank."
Axel Dohms
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