von Marc Lang
Ditzingen, 21. November 2009
Nachdruck des Berichts vom
SV Untertürkheim
4 Partien - zum Nachspielen
Bildergalerie
Bericht in der Stuttgarter Zeitung
Irgendwann fühlt man sich, als trüge man am ganzen Körper schwere Gewichte, die man gerade so noch halten, aber keinen Schritt mehr damit machen kann: Man "blickt" auf die aktuelle Position an einem der 23 Bretter, man weiß, wo die Figuren stehen, man kann auch erahnen, ob und wo Figuren angegriffen sind - aber es kostet unheimlich viel Kraft, sich einen guten Zug einfallen zu lassen. Besonders schwierig ist das in Situationen, die aktive Maßnahmen erfordern würden, um die gegnerische Stellung anzugehen. Das Berechnen von konkreten Aktionen fällt einem schwerer und schwerer, je länger die Veranstaltung dauert, so dass man oft einfach nach einem Zug sucht, der nichts verdirbt. Türme zentralisieren, ein Luftloch für den König, normale Entwicklungszüge ... Hauptsache, der Zug stellt nichts ein und schafft keine irreparablen Schwächen. Früher, als ich noch in Ditzingen spielte, nannten wir eine solche Spielweise "Durchgestrichenes Dreieck", in Anlehnung an das Informator-Zeichen für "mit der Idee" (ein Dreieck): Mit der Idee ... keine Idee.
| Anpfiff mit Verzögerung |
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Unmittelbar vor dem Start | |
Zu Beginn der vom Schachklub Ditzingen wirklich vorbildlich organisierten Veranstaltung stellte sich heraus, das das in den letzten Wochen mühsam organisierte Teilnehmerfeld eine ungeahnte Dynamik entwickelte, denn bis der 1. Zug ausgeführt wurde schwankte die Teilnehmerahl ständig zwischen katastrophalen 19 und erstaunlichen 24 (also einem Spieler mehr als vorgesehen) hin und her. Zwei angemeldete Spieler fanden den Weg ins TSF SportCenter leider nicht, drei weitere verspäteten sich, ein Spieler kam neu hinzu und zwischendurch meldeten sich mehrere Ersatzspieler immer wieder an und ab, so dass meine Teilnehmer-Checkliste zwischenzeitlich eher einem Werk von Jackson Pollock glich, wenn auch mit einem etwas geringeren Sammlerwert. Als etwa eine halbe Stunde nach avisiertem Beginn endlich einmal kurzfristig die magische 23 erreicht war, nutzten wir die Gelegenheit und legten unverzüglich los. Ein Gutes hatten die anfänglichen Wirren: Mit Hanno Dürr hatten wir einen im Vorfeld dummerweise nicht eingeplanten Internationalen Schiedsrichter hinzugewonnen, der seinen Platz im Feld dem Gerlinger Walter Peter zur Verfügung stellte, um den Rekordversuch hochoffiziell überwachen zu können; eine Aufgabe, der Herr Dürr auch sehr gewissenhaft nachkam.
| Überall Kostic, äh Slawisch |
Die größten Schwierigkeiten hat man als "Blindsimulant" traditionell in der Eröffnung. Am Anfang stehen alle Partien gleich und selbst 5 Züge später verlaufen die meisten Spiele in sehr ähnlichen Bahnen, so dass es sehr schwer ist, sie im Kopf voneinander zu unterscheiden. Beispielsweise hatte ich an sehr vielen Brettern Slawisch oder slawische Strukturen auf dem Brett, u.a. direkt hintereinander an den Tischen 8 bis 10, was vermutlich dazu führte, dass ich an Brett 8 (gegen Herrn Kulzer) noch vor Ende der Eröffnung einen wichtigen Bauern einstellte und schon frühzeitig ums Remis kämpfen musste. Ich wähnte seinen Springer b8 noch auf seinem Ausgangsfeld, doch als mein Zug Se5 postwendend mit Sxe5 beantwortet wurde, ging mir auf, dass ich mich wohl geirrt hatte... .
| Die Bretter rasten ein |
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Die Bretter waren mit Postkisten abgeschirmt worden | |
Nach ungefähr 2 Stunden Spielzeit, wenn die Partien so allmählich alle ein eigenständiges "Gesicht" erhalten, begannen die ersten Bretter "einzurasten" - nach und nach, wie in einem jener Filme, in denen ein Computer einen langen Zahlencode Ziffer für Ziffer knackt, wurde allen Positionen ein fester Speicherplatz zugewiesen. Warum dies bei manchen Partien länger dauert als bei anderen kann ich nicht sagen; tendenziell scheint es aber so zu sein, dass die Speicherung der "hinteren" Bretter (also der mit höheren Tischnummern) länger dauert als die der vorderen.
Im Vorfeld hatte ich insgeheim gehofft, die Zahl der Gegner schnell verringern zu können, um Energie zu sparen. Anfangs sah es auch gar nicht so schlecht aus, denn nach ca. 3 Spielstunden stand es 2:0 - Pascal Schmidthaler und Hans Sax hatten beide noch in der Eröffnungsphase eine Figur eingestellt und gaben dankenswerter Weise bald danach auf. Nach einem weiteren Remis gegen Stephan Lind war es jedoch schon vorbei mit dem erhofften Bretterschwund. Statt dessen gingen die Partien in die unerwartet schwierige Mittelspielphase über.
| Erinnerungen an Gijon |
Mit fortschreitender Dauer der Veranstaltung bekam ich dann die ersten Erschöpfungserscheinungen. Diese machten sich nicht direkt bemerkbar; vielmehr wurde es zunehmend schwieriger, einen Plan zu fassen oder gar an einer Kombination zu überlegen. Nicht selten wählte ich dieselbe Taktik wie das deutsche Fußballteam im schmachvollen Spiel gegen Österreich bei der WM 1982 in Spanien - einfach den Ball hin- und herspielen, dann passiert schon nix. Und so konzentrierte sich gerade in den komplexen Partien meine Zugsuche u.a. darauf, eine Fortsetzung zu finden, die a) nichts einstellt und b) den Status Quo beibehält. Das funktionierte insgesamt ganz gut, aber gewinnen kann man damit natürlich nicht. Infolgedessen endeten einige Partien bald darauf mit Unentschieden; manche Teilnehmer boten hierbei die Punkteteilung an, weil sie offenbar die Dauer der Veranstaltung im Vorfeld unterschätzt hatten. So hatte ich gegen Kulzer einen ungesunden Minusbauern mit bestenfalls Fuddelchancen meinerseits, als die Remisofferte kam.
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Zu diesem Zeitpunkt war meine Stellung gegen Stephan Arounopoulos noch o.k. ... | |
Etwa in der 7. Stunde musste ich das erste Mal hinter mich greifen: Stephan Arounopoulos, mit DWZ 2115 eindeutig der stärkste Spieler im Feld, hatte mir in der Eröffnung mit einem schönen Trick einen Bauern abgenommen und ging dermaßen sicher an dessen Verwertung, dass ich das Ende mit Schrecken dem Schrecken ohne Ende vorzog und lieber gleich das Handtuch warf. Am Brett daneben zeichnete sich ebenfalls eine Niederlage meinerseits ab - gegen Thomas Heining hatte ich "vergessen", dass Schwarz schon rochiert hatte und startete einen direkten Angriff gegen seinen vermeintlich in der Mitte stehenden König, den ich erst abbrach, als Schwarz unvermittelt ... Tae8 spielte - ach so, der ist schon nicht mehr da ... . In der Folge musste ich zwei Figuren für Turm und Bauer geben, was bei bestem Spiel vielleicht sogar noch spielbar gewesen wäre, doch unter diesen Bedingungen war die Stellung viel zu kompliziert für mich. Als mein König von so ziemlich allen schwarzen Figuren unter Feuer genommen wurde, musste ich auch diese Partie aufgeben.
| Problemkinder |
Die größten Probleme bereiten dem Blindspieler aus meiner Sicht zwei Typen von Stellungen: Entweder verschachtelte Strukturen mit keinen oder nur sehr wenigen Abtäuschen. Königsindisch zum Beispiel ist eine Eröffnung, die man im Blindspiel vermeiden sollte; hier hatte ich bei meinem letzten Blindsimultan (an 15 Brettern in Krumbach 2009) bereits sehr schmerzliche Erfahrungen gemacht. Oder sehr taktische Stellungen mit wild durcheinander gewürfelten Figuren, in denen jeder falsche Zug sofort bestraft werden kann. Die Partien gegen Schömbs und Griesche waren zwei typische Beispiele für den letztgenannten Typus - in beiden wurde das Spiel schnell scharf und beide Könige gerieten unter das Feuer fast aller gegnerischer Figuren. Ich verbrauchte hier in jedem Umlauf sehr viel Zeit und war gottfroh, sie durch einen eher zufälligen taktischen Schlag schlussendlich doch für mich entscheiden zu können.
Gleichwohl muss ich schon sagen, dass der Spielstärkeverlust schon erheblich ist und - logischerweise - mit der Anzahl der Bretter auch weiter dramatisch zunimmt. Während ich in Krumbach gegen 15 Opponenten noch enigermaßen plausibles Schach spielte, waren dieses Mal nur eine Handvoll Partien wirklich vorzeigbar. Am Besten haben mir im Nachhinein von den Gewinnpartien die Begegnungen gegen Martin Schmidt und Oliver Schömbs gefallen, während von den Remispartien die gegen Phillippe Leick am interessantesten war, jedoch hauptsächlich wegen der starken schwarzen Eröffnungsbehandlung als wegen meiner Züge.
| 5 Minuten Bedenkzeit für einen Figurengewinn |
Als wir uns der 9. Spielstunde näherten, machte sich allmählich Euphorie in meinem Hirn breit und verdrängte die immer größer werdende Erschöpfung. Der Horizont war in Sichtweite; es liefen nur noch 6 Partien und, was fast noch wichtiger war, in diesen war ich allesamt nicht mehr in Verlustgefahr. Doch so rechte Sicherheit wollte sich noch nicht einstellen - gegen Herkommer sah ich, dass ich mit der Dame eine Figur von ihm gratis schlagen konnte, weil er wegen einer Fesselung nicht zurücknehmen konnte. Doch es dauerte 5 Minuten, ehe ich mich zu diesem Zug durchringen konnte - wenn ich mich irren würde und beispielsweise sein König nicht auf g8, sondern auf h8 stand, würde mich der vermeintliche Figurengewinn eine glatte Dame kosten. Glücklicherweise stand sein König noch auf g8 und Andreas gab einen Zug später auf, jedoch nicht ohne sich noch einen kleinen Scherz zu erlauben und meine Dame regelwidrig trotzdem zu schlagen. Ich wäre beinahe in Ohnmacht gefallen, ehe allgemeines Gelächter mein Herz aus der Hose zurück an seinen Platz beförderte.
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Die letzte Partie ... das Bauernendspiel ist remis | |
So schien ich am Ende wohl einen "lucky run" zu haben - oder meine Gegner waren inzwischen ähnlich erschöpft wie ich, was nicht verwunderlich wäre, denn schließich saßen sie ja ebenso schon seit vielen Stunden am Brett. Am Ende liefen Hubert Bitzel in ein Mattnetz, Klaus Fischer ließ meinen d-Bauern promovieren und Oliver Schömbs verlor in unserer dramatischen Partie für einen Moment die Übersicht in Tateinheit mit seiner Königin. Zu guter Letzt blieb es Sven "Ernie" Lutzei vorbehalten, als Letzter zu spielen. In einem für ihn schlechter stehenden Turmendspiel mit Minusbauern verteidigte er sich zäh und sehr findig, so dass ich am Ende doch ins Remis einwilligen musste, da unsere Bauern gleichzeitig promovierten. Das Remis ergab den 15:8 Endstand und somit das Ergebnis, das ich mir im Vorfeld erhofft hatte.
| Nie wieder...oder? |
Abschließend möchte ich mich ausdrücklich bei allen Teilnehmern für ihr Mitwirken und ihre Geduld sehr herzlich bedanken. Viele blieben die vollen 11 Stunden bis zum Ende des Wettkampfes und drückten mir die Daumen. Darüber hinaus möchte ich mich bei den Jungs vom TSF Ditzingen für die hervorragende Organisation und Spielbedingungen bedanken; die Halle war für das Event mehr als ideal. An Schachfreund Dürr an dieser Stelle auch noch einmal meinen Dank für die Funktion des Schiedsrichters und Chronisten des Rekordes.
Auf dem Weg nach Hause (ich musste anschließend noch bei dichtem Nebel die über 100 km nach Günzburg fahren) schwor ich mir zunächst, dass das mein letzter Versuch an so vielen Brettern sein würde. Aber mittlerweile bin ich mir da schon nicht mehr so sicher. Vielleicht kann man das Ganze doch noch weiter steigern - aber für das nächste Mal muss ich mir irgendwas einfallen lassen, um die Bedingungen für die Teilnehmer zu verbessern. Vielleicht mit Ersatzspielern?! Schau'n wir mal...
Br.Name DWZ Verein Erg.
01 Thomas Heining 1956 SV Untertürkheim 0:1
02 Friedrich Kirchhoff 1635 SV Untertürkheim ½:½
03 Klaus Fischer 1655 SV Untertürkheim 1:0
04 Andreas Herkommer 1481 SV Untertürkheim 1:0
05 Stephan Arounopoulos 2113 SK e4 Gerlingen 0:1
06 Philippe Leick 1877 SK e4 Gerlingen ½:½
07 Hubert Bitzel 1550 TSF Ditzingen 1:0
08 Helmut Kulzer 1799 TSF Ditzingen ½:½
09 Sven Lutzei 1623 GSV Hemmingen ½:½
10 Hans Sax 1879 Stuttgarter SF 1:0
11 Klaus Sprenger 1441 TSF Ditzingen ½:½
12 Pascal Schmidthaler GSV Hemmingen 1:0
13 Eckart Frowein 1823 SK e4 Gerlingen ½:½
14 Valentin Seiffert 1297 TSF Ditzingen ½:½
15 Veit Griesche 1256 SC Steinhaldenfeld 1:0
16 Thomas Feledi 1051 SV Besigheim ½:½
17 Oliver Schömbs 1795 SC Ingersheim 1:0
18 Jakob Luft 1852 SV Untertürkheim ½:½
19 Walter Peter 1657 SK e4 Gerlingen ½:½
20 Holger Schröck 1595 TSV Heumaden 1:0
21 Stephan Lind 1815 TSF Ditzingen ½:½
22 Martin Schmidt 1786 SG KK Hohentübingen 1:0
23 Michael Stegmaier 1782 SC Tamm 74 ½:½